Zeindler Krimi

Teil 1
Eigentlich sieht er nicht wie ein Verbrecher aus. Und er hat ja auch noch kein Verbrechen begangen. Doch manchmal, wenn er so dasteht, seine kräftigen Finger auf der Höhe des linken Ohres, den Blick leicht abgewandt, und wenn er dazu sein kleines lüsternes Spitzmäulchen unter dem Schurrbart macht und diesen gierigen Blick hat, der durch das kunstvoll drapierte weiße Haar zwar etwas gemildert wird (wobei er ja vielleicht nur an Schokolade denkt) kann ich mir vorstellen, dass er es tun wird. Leute in seinem Beruf sind ja mit der Zeit reif für die Psychiatrie. Besonders einer wie er, der zu den Einsamen seines Fachs gehört: Eingeklemmt zwischen Flügel und Schlagzeug muss er sich Gehör verschaffen, obwohl er ja eigentlich nur immer einen einzigen dumpfen Ton aufs Mal erzeugt. Er knüpft zwar an diesem wunderbaren Teppich mit, auf dem sich seine sogenannten Kollegen dieses Männervereins immer wieder, vom Scheinwerfer angestrahlt, im Solo produzieren dürfen, aber er fällt, musikalisch gesehen, nicht wirklich auf. Er rhythmisch. Und visuell wegen seiner ausladenden Erscheinung. Natürlich darf er ja auch ab und zu seine Fingerfertigkeit beweisen: Aber wenn seine Finger dann über den Hals seiner Dicken wuseln, manchmal hart zugreifen, ihn manchmal auch liebkosen und ihr kleine freudige Laute entlocken, ist man zwar begeistert, aber das Ganze hat auch etwas Anrührendes. Dieses Gefühl, bin ich mir sicher, will er vor allem beim weiblichen Publikum nicht wecken. Er will uneingeschränkte Bewunderung. Darauf ist er aus. Und darum wird er dieses Verbrechen begehen. Er peilt den Top an. Und der Weg dahin kann nur über eine Leiche führen. Warum braucht dieser Mann als einziger der Band immer zwei Notenständer nebeneinander? Sie wissen es nicht? – Dann warten Sie ab!

Teil 2
Warum er als einziger der ganzen Band zwei Notenständer nebeneinander stehen hat? Er hat die gesamte Partitur immer vor sich. Er will den ganzen Apparat im Griff haben. Der Mann hat Allmachtsansprüche. Vielleicht leitet er sie ja auch von den Dimensionen seines Instruments ab. Er will wissen, wann wer seinen Einsatz hat. Oder ihn verpasst. Ihm entgeht nichts. Aber er entgeht den andern. Eigentlich ist er trotz seines Instruments eine unauffällige Erscheinung. Er ist pünktlich. Er wird nie laut. Er ist Vegetarier. Seit zwölf Jahren schon. Vielleicht isst er ab und zu einen toten Fisch. Er hat einen trockenen Humor, der ankommt. Aber es ist ja gerade diese scheinbare Unauffälligkeit, die ihn so gefährlich macht.

Kürzlich habe ich ihn beobachtet, als er mit seiner Digitalkamera aus der Hüfte schoss. Und zwar während der Probe. Er ist ein Besessener, was das Fotografieren betrifft. Seine Manie, die Fotos seinen Kollegen per Mail zu übermitteln, hat sich herumgesprochen. Immer wieder fängt er sie in den fatalsten Augenblicken ein: Den Klarinettisten, wenn er im Augenblick höchster Konzentration und Verzückung mit dem letzten Quentchen Atem und hochrotem Kopf seinem Instrument das Letzte abfordert, es himmelwärts zwingt und dabei die Augen wie im Zenith einer Ekstase schliesst. Der etwas übertriebene Gesichtsausdruck gehört zum Geschäft, aber wenn man dann die Fotos betrachtet und nicht gleichzeitig dieses Solo auf der CD einspielt, wirkt dieser Akt überdreht, komisch. Darauf hat es der Mann am Bass wohl abgesehen, wenn er seine Mails abschickt. Die Kollegen zu verunsichern. Die Kollegen – und den Boss! Einen Tag vor dem ersten Auftritt am 23. September habe ich im Foyer des Schiffbaus ein Farbfoto gefunden. Diese Handst kenne ich, diesen sicheren Schuss aus der Hüfte: Der Boss in einer verzückten Dirigierbewegung erstarrt, als reite er auf dem Wellenkamm einer Harmonie! Wer wohl hat dieses Bild mit einem schwarzen Filzstift kreuzweise durchgestrichen?

Teil 3
Der Mann am Bass wird mir immer unheimlicher.
Da ist einmal das Foto des Leaders, mit Filzstift kreuzweise durchgestrichen. Als er kürzlich nach der Probe mit mir zusammen an der Bar stand, wo er beinahe gleichgültig an einem Glas Wein nippte, sah ich zwischen seiner eigenen CD mit dem Titel „Late – But not Too Late“ und der Noten Thad Jones „Tiptoe“ ein Bündel mit weiteren Fotos des Bandleaders: Die Fotos zeigten ihn in allen möglichen Haltungen und Stellungen, beinahe in sich gekehrt, meditativ, die Ellbogen seitlich am Körper, den Blick auf den Boden gerichtet, als ob er den Duft einer Blume, die irgendwo da unten auf dem Bühnenboden blühte, spielend beschwören wollte. Oder eine Schlange zum Tanzen bringen wolle. Dann gab es wieder andere Bilder, in denen er scheinbar lässig die Phalanx seiner Musiker abschritt und ihnen so für Augenblicke das Gefühl der individuellen Freiheit zu geben schien, als ob er sie vorübergehend aus seiner unauffälligen Autorität entlassen, im Kollektiv neue Energien freimachen wolle.

Als der Mann am Bass die Bar verließ, fiel mir auf, dass er nicht auf direktem Weg dem Ausgang zustrebte, sondern wie probeweise ein paar Sidesteps einstreute, auch mit der einen Hand Taktbewegungen andeutete, als ob er ein Orchester dirigiere. Orchester? Ein ganz bestimmtes Orchester, das Zurich Jazz Orchestra! Er machte dieselben Bewegungen, die ich auf den Fotos gesehen habe. Und dann war diese eigenartige Handbewegung zu seiner Jackkettasche.Ja, da war noch etwas, was mir an diesem Tag an der Bar auffiel. Der Anzug des Mannes am Bass saß nicht mehr satt am Körper, sondern warf Falten, an einigen Stellen wirkte er gar zu weit. Und trotzdem fielen mir in seiner Jackettasche die Umrisse eines Gegenstands auf, den ich nur aus Kriminalfilmen kannte. Trug er wirklich eine Pistole auf sich?
„Er hat acht Kilo abgenommen“, flüsterte mir der Mann am Piano zu, der sich zu mir gesellt hatte. Er musste es ja wissen, denn er hatte seinen Kollegen am Bass ja sozusagen immer in Sichtweite.
„Ist er auf Diät?“
„Er isst keine Schokolade mehr.“
„Wer sagt das?“
„Seine Frau! Die muss es ja schließlich wissen. Und nach den Konzerten kommt er später nach Hause als üblich.“
„Hat er eine Geliebte?“
Der Pianist zuckte mit den Schultern und bestellte ein Bier. Der Mann mit dem Bass stand plötzlich wieder unter der Tür der Bar und schaute sich um. Er grinste, knöpfte dann schnell sein Jackett zu und wandte sich wieder ab. In seiner Jacketttasche steckte dieser ominöse Gegenstand. Kaum zu erkennen. Er hatte ja abgenommen.
„Er spinnt“, sagte der Pianist, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum, von den Lippen.
Und ich werde mich jetzt um den Inhalt der ausgebeulten Jackettasche kümmern. Und um sein Nachtleben.

Teil 4
Ich habe mich um das Nachtleben des Mannes am Bass gekümmert. Nicht nur um seines. Was mir dabei aufgefallen ist: Früher erschien er bei den Gigs immer im makellosen weißen Hemd. Auch auf Tournée trug er beim Auftritt immer makellose Hemden, um die ihn alle beneideten. Mit ihrer Leuchtkraft zogen sie die Aufmerksamkeit des Publikums jedes Mal von seinen unmittelbaren neben ihm plazierten Partnern am Schlagzeug und am Klavier ab. Es hat gedauert, bis seine Kollegen das Geheimnis des weißen Riesen zu lüften vermochten. Sein ständiger Zimmerpartner Giorgio, der sardinische Gitarrist hat es ausgeplaudert. Der Mann am Bass hat drei weiße Hemden. Jeden zweiten Abend nach der Vorstellung reinigte er zwei davon mit einer geheimnisvollen Tinktur aus der Tube, hängt sie dann auf den Bügel, spült sie heiß ab, und am andern Morgen sind sie glatt und makellos, als ob er sie soeben aus der Wäscherei geholt oder frisch gekauft habe. Das hält er locker drei Wochen lang durch.

Aber jetzt? Er wirkt plötzlich etwas verwahrlost. Sein Hemd ist zerknittert und gräulich. Warum interessiert es diesen Mann, der doch mindestens so eitel ist wie seine Kollegen, der sich täglich drei Stunden sportlich betätigt, um sein monströses Instrument im Griff zu haben, plötzlich nicht mehr für seine Kleidung? Warum trägt er auf Tournée plötzlich immer ein und dasselbe Hemd?

Diese offensichtliche Wandlung im Wesen des Mannes am Bass haben mir keine Ruhe gelassen, und deshalb habe ich ihn auch an den Tagen zwischen den Abstechern heimlich zu beobachten begonnen. Dass der Mann, der aus dem Westerwald stammt, öfter als früher allein Spaziergänge unternimmt und dabei ein Köfferchen mit sich trägt, ist nicht nur seiner Frau aufgefallen. Zweimal bin ich ihm gefolgt. Beide Male habe ich ihn aus den Augen verloren. Aber beim zweiten Mal, als ich im Wald umherirrte, habe ich Schüsse gehört. Und dann habe ich ihn entdeckt. Er lehnte an einer Eiche, hielt mit beiden Händen, in der sogenannten Combatstellung eine Pistole umklammert und schoss auf ein sanft im Wind schwebendes weißes Hemd, das an einem Ast, zwanzig Meter entfernt vom Schützen, aufgehängt war. Er zielte vor allem auf die Manschetten, so dass es aussah, als ob da jemandem die Hände weggepustet worden seien.
Ich habe mich leise davon gemacht. Vorgestern, bei der Probe, an der ich gegen meine Gewohnheit als scheinbare Zuhörerin teilnahm, hatte der Mann am Bass einen lauernden Gesichtsausdruck. Und unser Leader wirkte blass und unkonzentriert. Nach der Probe hat er mir heimlich einen Umschlag zugesteckt und mir zugeflüstert, er wolle mich in der Bar treffen.
„Trombone zieh Leine! Ein Schuss genügt. Und Hände weg!“
Eine Morddrohung, auf rosafarbenem Papier aus einzelnen Buchstaben zusammengesetzt. Die blaue Schrift war mir bekannt. Sie stammte aus dem Flyer der Big Band.

Teil 5
„Dieser Gig vom 3. Februar: Die Ruhe vor dem Sturm. Der Mann am Bass wirkte betont entspannt. Dass er kein weißes Hemd trägt, ist ja mittlerweile bekannt. Aber das er an diesem Abend mit einem schwarzen Hemd auftrat und dazu eine rote Krawatte umgebunden hatte, war doch auffallend. Er hat das Rot der Notenständer gewählt. Blutrot! Der Abend begann so, wie wir es seit langem gewohnt sind. Der Bandleader stand vor seinem Orchester, hob dann seine Arme, streckte die beiden Daumen nach oben, und dann ging’s los! Der Mann am Bass spielte seine Rolle als diszipliniertes Mitglied der Band souverän. Er schaute aufmerksam auf den Leader, neigte sich leicht vor, um seine Beflissenheit noch zu unterstreichen, zupfte und zupfte, und seine Lippen spielten mit, formten sich zum sattsam bekannten Spitzmäulchen, öffneten sich, und nur ab und zu verzerrte diese kleine diabolische Grimasse seine Züge. Der Mann spielte einen Bassisten, aber er spielte ihn nur. Hinter dieser jovialen Maske verbarg sich ein anderer. Immer wieder, wenn der Leader seinen Blick nach rechts richtete, um die Trombonen anzuheizen, wurde der Griff des Bassisten härter, spannten sich seine Muskeln, und es war offensichtlich, dass er das Gesicht des Chefs studierte. Als ob er prüfen wollte, ob die anonymen Drohungen Wirkung zeigten.

Aber vielleicht bildete ich mir all das nur ein, und der Mann am Bass hatte mit all dem nichts zu tun, sondern war der Mann aus dem Westerwald, so wie wir ihn seit 18 Jahren alle kannten, pünktlich, zuverlässig, der körperbewusste Mann mit dem trockenen Humor, der seinen Platz in der Band offensichtlich gefunden und keine weiteren Ambitionen hatte. Vielleicht hatte er sich ja nur einen kleinen Kollegenscherz erlaubt! Es war ja schließlich normal, dass der Mann am Bass, wenn er sich sozusagen pur mit den Saiten seines Instruments befasste, sein Bogen in dieses köcherartige Futteral unten am Bass gesteckt hatte. Auch an diesem Abend war es so. Nur war dieser Abend, was die Stimmung betrifft, anders als alle vorangegangenen. Und so weckte der Bogen im Futteral Assoziationen an unsern Nationalhelden Wilhelm Tell, der ja den Landvogt auch mit einem zweiten Pfeil im Köcher gedroht hatte.

Der Mann am Bass hatte noch Reserven.

Zwar war es ja verabredet, dass unser Bandleader seinen Platz nach der Pause einem Gastdirigenten zur Verfügung stellen würde. Aber warum verabschiedete er sich vom Publikum so, als ob der Abend zu Ende sei und wünschte allen eine gute Nacht? War er mit den Nerven am Ende? Fürchtete er sich vor dem nächsten Auftritt?

Als der Mann am Bass nach dem Konzert sein Instrument einpackte, es in diese auslandende Hülle packte, habe ich den Leader beobachtet, der an der Bar den zweiten Teil des Konzerts mitverfolgt hatte. Und in diesem Augenblick wusste ich, dass er dasselbe dachte, wie ich: In dieser Basshülle hätte ein ausgewachsener Mensch locker Platz. Und eine stille Leiche erst recht!

Teil 6
Heute ist der Tag, an dem sich alles entscheidet. Und da sitzt das Publikum und hat keine Ahnung, denkt, es sei ein Gig wie jeder andere. Einfach nur der Abschluss einer gelungenen Saison. Hat denn keiner bemerkt, dass sich der Mann am Bass ein neues weißes Hemd gekauft hat? Und eine neue Krawatte. Und sogar ein neues Jackett mit tadelloser Rückenpartie. Was braucht ein Bassist denn ein Jackett von einem erstklassigen Schneider? Diese Frage drängt sich geradezu auf. Während des Konzerts deckt ihn sein Instrument vorn beinahe ganz zu, und von hinten sieht man ihn überhaupt nie! – Also, warum dieses neue Jackett? Warum? Der Mann am Bass hat heute seinen ultimativen Auftritt. Er rechnet fest damit, dass man ihn von hinten sehen wird.

Da ist wieder sein Lächeln, sein Spitzmäulchen. Er steht da, nervöser als sonst, aber das bemerken nur Eingeweihte. Ist denn den Kollegen aufgefallen, dass der Mann am Bass sein eigenes Instrument gar nicht aus der Hülle geschält hat? Als ob er es an diesem Abend gar nicht benützen wollte. Alles deutet darauf hin, dass er der Verfasser der anonymen Drohbriefe an die Adresse unseres Bandleaders war. Die letzte Drohung ist gestern Abend eingetroffen. Wieder mit beinahe demselben Wortlaut: Letzte Warnung: Trombone zieh Leine! Sonst endest Du gut verpackt unter der Erde!

Diese letzte Drohung hat scheinbar Wirkung gezeigt. Eigentlich sollte das Konzert gleich beginnen, aber der Stefan ist nirgendwo zu sehen. Der Mann am Bass hat auf die Uhr geschaut. Die Kollegen werden unruhig. Und das Publikum rutscht auf den Sitzen umher. Ist mir die Sache wirklich aus dem Ruder gelaufen? Hat der Mann am Bass sein Ziel erreicht? Einmal vorn stehen und der Band seinen ganz persönlichen Rhythmus aufzwingen! Und einmal dieses Allmachtsgefühl verspüren, das manche Dirigenten so auskosten: Der Dirigent steht mit dem Rücken zum Publikum. Er ist ein kleiner Gott, ist nur Rücken, Arme, Hände, aber er zeigt sein Gesicht nicht. Er ist unverletzlich, nicht wie die Musiker, deren Augen beim Blasen aus den Höhlen qellen, der Köpfe rot anlaufen, deren Mimik oft zur Grimasse verzerrt ist. Der Mann am Bass will nur dieses eine: Allmachtsgefühle!

Stefan ist noch immer nicht da! Der Mann am Bass hat also sein Ziel erreicht. Er lächelt. Er schaut seine Kollegen an, zieht seine Jackettärmel etwas nach vorn, streicht sein neues Jackett glatt. Jetzt zeigt er fragend auf sich. Die Kollegen nicken. Er hat es geschafft. Der Abend muss beginnen – der Mann am Bass ist der große Retter! Dieses Triumphgefühl – eine sanfte Röte auf der Stirn. Jetzt geht er nach vorn, verneigt sich gekonnt, dann wendet er sich der Band zu. Man sieht ihn nur noch von hinten. Ein guter Schneider, wirklich! Jetzt hebt er die Arme, streckt die Daumen nach oben, wie er es bei Stefan abgeschaut hat, und jetzt – jetzt gibt er den Einsatz. – Was ist denn das? Die Band reagiert nicht? – Brav! Es hat also doch geklappt. Der Mann am Bass erstarrt. Und er starrt jetzt bestimmt, auch wenn man ihn nur von hinten sieht, auf sein eigens Instrument in der Hülle, die sich jetzt langsam öffnet und – Kalli, das Spiel ist aus! Es gab da noch ein paar Cleverere als dich! – Willkommen Stefan Schlegel – Willkommen zu Deinem Abschiedskonzert!